Zur westlichen Ideengeschichte der Gerechtigkeit

Ein Beitrag zur westlichen Ideengeschichte der Gerechtigkeit von Konrad Ott

Gerechtigkeit kann, ähnlich wie Freiheit, als eine Idee der praktischen Vernunft betrachtet werden. Forderungen nach Gerechtigkeit zählen zur moralischen Tradition der Menschheit und finden sich prominent in der jüdisch-christlich-griechisch-römischen Kultur. In der jüdischen Tradition bedeutet „zedekija“ die Befolgung der göttlichen Rechtsgeheiße und ein Leben in Gottesfurcht. Im Psalter heißt es, dass Gerechtigkeit und Frieden einander umarmen und küssen, was umgekehrt auf die wechselseitige Verflechtung von Gewalt und Ungerechtigkeit hinweist. In den Seligpreisungen Jesu werden die Menschen gepriesen, die nach Gerechtigkeit hungern und dürsten. Das Verlangen nach Gerechtigkeit kann demzufolge so stark sein wie elementare leibliche Bedürfnisse. In der „Politeia“ entwirft Sokrates das Ideal eines gerechten Staates, in dem jeder das Seinige tut, und begründet dadurch die Tradition der Staatsutopien. Aristoteles unterscheidet in der „Nikomachischen Ethik“ zwischen der politischen, der verteilenden („distributiven“) und der ausgleichenden („kommutativen“) Gerechtigkeit. Die politische Gerechtigkeit führt in die Lehre von den Staatsformen, die distributive Gerechtigkeit fragt nach unterschiedlichen Ansprüchen des Zukommens, während die kommutative Gerechtigkeit in das Vertragsrecht und die Straftheorie führt. Gerechtigkeit kann als persönliche Tugend oder als politisches Prinzip verstanden werden.

Im 19. Jahrhundert wird die soziale Frage zum Motor von Gerechtigkeitsforderungen. Büchners „Hessischer Landbote“ endet mit einem Aufruf zur Erhebung, um das Reich der Gerechtigkeit zu errichten. Für Marx und Engels ist die Situation des Proletariats strukturell zutiefst ungerecht, da die Menschen, die allen ökonomischen Wert produzieren, selbst ohne Eigentum bleiben. Für Engels lebt das Proletariat in empörenden Verhältnissen; für Marx wird an ihm ein Unrecht im welthistorischen Format begangen. Beim späten Marx tritt die moralische Empörung dann hinter seinem Versuch zurück, das bevorstehende Ende des Kapitalismus, der an seinen immanenten Widersprüchen zugrunde gehen werde, nachzuweisen. Darauf aufbauend, wollte der politische Marxismus des 20. Jahrhunderts (z.B. Lenin, Mao, Guevara) eine gerechte ökonomisch-soziale Ordnung jenseits von Klassenverhältnissen errichten.

Forderungen nach Gerechtigkeit können aber auch als Ausdruck von Neidgefühlen oder als Ideologien erscheinen. Bekannt ist auch der Spruch fiat justitia, pereat mundus („Es geschehe Gerechtigkeit, gehe auch die Welt darüber zugrunde“), der so verstanden wird, dass bei Versuchen, die Gerechtigkeit auf Erden zu verwirklichen, großes Unheil angerichtet und schwere Verbrechen begangen wurden (von Robespierre bis Pol Pot). Erinnert wird dabei auch an Heinrich von Kleists Novelle „Michael Kohlhaas“, in der Kohlhaas aufgrund seines verletzten Gerechtigkeitsgefühls eine Fehde anzettelt, die vielen Menschen und am Ende ihm selbst das Leben kostet.

Einen Meilenstein in der Gerechtigkeitstheorie ist John Rawls‘ „A Theory of Justice“ von 1971. Rawls argumentiert, dass rationale, wenig risikobereite und aneinander desinteressierte Personen sich auf vier generelle Prinzipien – Freiheit, Chancengleichheit, sozialer Ausgleich bzw. Solidarität und, weniger prominent in der Theorie, intergenerationelle Fairness – einigen würden; vorausgesetzt ihnen blieben ihre eigenen Lebensumstände (bspw. Herkunft, Gesundheit, persönliche Fähigkeiten) hinter einem Schleier der Unwissenheit verborgen. Eine kulturalistische Korrektur an Rawls findet sich bei Michael Walzer in den „Spheres of Justice“. In seinem kommunitaristischen Ansatz sind gerechte Verteilungsmuster immer gebunden an die kulturellen Bedeutungen der Güter, die es zu verteilen gilt (Bildung, Mitgliedschaft, Arbeit, Anerkennung usw.). Eine Alternative zu Rawls und Walzer ist der sog. Befähigungsansatz (A. Sen, M. Nussbaum), der von den Handlungsoptionen ausgeht, zu denen alle Menschen befähigt sein sollten. Ungerechtigkeit liegt immer dann vor, wenn Personen auch nur eine dieser (bei Nussbaum: zehn) Befähigungen versagt bleibt.

In der jüngsten Vergangenheit hat sich die Diskussionslandschaft stark diversifiziert: So haben kosmopolitische Konzeptionen von globaler Gerechtigkeit an Bedeutung gewonnen, und in der analytischen Ethik erfolgen Vertiefungen einzelner Konzepte wie etwa Prioritarianismus („Eine Verteilung ist gerecht, wenn den am Schlechtesten gestellten die größte Priorität zukommt.“), Suffizientarismus („Eine Verteilung ist gerecht ist, wenn alle genug, d.h. einen bestimmte Schwelle erreicht haben.“) und Egalitarismus („Eine Gleichverteilung ist gerecht“). Während der Egalitarismus Gleichheit einen intrinsischen Wert zuschreibt und sich auf die Frage „Equality of What?“ konzentriert (Ressourcen, Zugänge, Chancen, Wohlergehen oder Ergebnisse), bestreitet der sog. Anti-Egalitarismus (H. Frankfurt, A. Krebs) jeden intrinsischen Wert von Gleichheit und fragt: „Equality, Why?“. Ihm zufolge fordert die Idee der Gerechtigkeit nicht, Gleichheit um der Gleichheit willen anzustreben.

In der angewandten Ethik werden unterschiedliche Konzepte von Gerechtigkeit auf diverse Praxisfelder bezogen (Medizinethik, Wirtschaftsethik, Migrationsethik). Mit Blick auf die Naturkrise erweitert sich die Umweltethik, die sich lange Zeit auf die Frage nach moralischen Selbstwerten von Naturwesen fokussiert hatte (sog. Inklusionsproblem), zu einer in der Regel anthropozentrischen Konzeption von Umweltgerechtigkeit. Diese umfasst eine inter- und eine intragenerationelle Dimension. Die intergenerationelle Umweltgerechtigkeit fragt danach, welche Naturausstattung, welche Klimabedingungen und welches Ausmaß an biotischer Vielfalt wir zukünftigen Generationen schuldig sind. Maßgebend für die intragenerationellen Konzeptionen sind dagegen zum einen der Kampf gegen den ökologischen Rassismus z.B. in den USA und zum anderen die problematische Umweltsituation vieler marginalisierter Menschen v.a. im Globalen Süden. Gemeinsam ist diesen Ansätzen, dass sie aus einer zumeist egalitären Perspektive die ungleichen Zugangsweisen zu natürlichen Ressourcen und Naturgütern und die ungleich verteilten Umweltbelastungen und Umweltrisiken, auch im Globalen Norden, thematisieren. Daran beteiligen sich unterschiedliche wissenschaftliche Disziplinen wie Geographie, Ethnologie, Politische Ökologie, Agrarwissenschaft, Politikwissenschaft oder Umweltethik.

Besonders deutlich wird die Verbindung von Umweltverbrauch und distributiver Gerechtigkeit in der Klimaethik, in der es um Zukunftsverantwortung, Verteilung des verbleibenden carbon budget, Anpassungshilfen, Kompensationsansprüche und die Rechte von Personen geht, die aufgrund des Klimawandels ihre Wohnsitze verlassen (müssen). Aber auch in vielen anderen Handlungsfeldern (Wasserversorgung, Städtebau, Landwirtschaft, Naturschutz, Fischerei usw.) stellen sich Gerechtigkeitsfragen.

In post-kolonialen Ansätzen der Umweltgerechtigkeit wird anerkannt, dass empfundene und erfahrene Ungerechtigkeit sich häufig in lokal situierten Narrativen ausdrückt und dass die Stimmen der direkt Betroffenen Gehör finden müssen. Dies betrifft vornehmlich indigene und andere marginalisierte Gruppen in den Ländern des Globalen Südens. In diesen Narrativen und Argumenten werden häufig die politischen und ökonomischen Verhältnisse der Nord-Süd-Beziehungen verantwortlich gemacht, ohne jedoch den Blick für die Eliten im Globalen Süden und die unterprivilegierten Gruppen im Norden zu verlieren. Bei diesen Debatten gibt es weniger Kontroversen hinsichtlich der grundlegenden Gerechtigkeitsprinzipien als vielmehr hinsichtlich der politik-ökonomischen Kausalitäten. Für EnJust gilt, dass alle Konzepte und Forderungen der Umweltgerechtigkeit allgemeine Gerechtigkeitsprinzipien voraussetzen, die ihrerseits Spezifikationen von Gerechtigkeitsideen sind, deren westliche Varianten wir hier dargestellt haben. Fallstudien und Narrative sind mit einem begründungstheoretischen Band an allgemeine Gerechtigkeitstheorien und ihre Ideengeschichten zurückgebunden. EnJust stellt sich daher die Aufgabe, vor dem Hintergrund der Geschichte verschiedener Gerechtigkeitsideen allgemeine Prinzipien der Gerechtigkeit auf die besonderen Konzepte der Umweltgerechtigkeit und auf die Vielzahl individueller Fälle zu beziehen. Durch diese Bezugnahmen werden die allgemeinen Ideen konkret und die individuellen Fälle generell. Diese komplexe Beziehung zwischen Ideengeschichte, allgemeinen Prinzipien, besonderen Konzepten und individuellen Fällen verlangt eine trans- und interdisziplinäre, kritische und reflexive Herangehensweise.